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Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                     II, 3 (2001)
 
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Ottmar Ette (Potsdam)

Nachwort nach dem 11. September 2001 

 

Vorabdruck des folgenden Textes aus: Ottmar Ette: "Weltbewusstsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne" mit freundlicher Genehmigung des Verlages Velbrück Wissenschaft (Weilerswist), wo dieses Buch 2002 erscheinen wird.

Die Arbeit an diesem Buch wurde vor dem 14. September 2001 abgeschlossen. Ein an diesem Tag aus Anlaß des Geburtstages Alexander von Humboldts an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften veranstaltetes Kolloquium stand ganz im Zeichen des drei Tage zuvor verübten Terroranschlags auf das World Trade Center in New York. Auf den ersten Blick schien die Auseinandersetzung mit dem Werk des preußischen Amerikakenners nichts mit jenem zuvor nur im Bereich der science fiction vorstellbaren Grauen zu tun zu haben, das in real time weltweit über die Medien verbreitet wurde. Und doch: Auch und gerade vor diesem Hintergrund, so scheint mir, sollte Alexander von Humboldt zu einem der Meisterdenker für das 21. Jahrhundert werden. Sein Schaffen zeigt exemplarisch die Fallen und Risiken, weit mehr aber die Chancen und Perspektiven eines vernetzten Denkens auf, das unterschiedlichste Bereiche des Wissens mehrdimensional miteinander verknüpft.

Kündigen die Katastrophen von New York und Washington sowie die daraus abgeleiteten und noch unabsehbaren Entwicklungen - wie des öfteren zu hören - eine »neue Zeitrechnung« an? Eröffnen sie symbolträchtig ein neues Jahrhundert? Eine Antwort auf derlei Fragen werden wir erst nach Jahren geben können. Heute bereits läßt sich freilich feststellen, daß die am Reißbrett entworfene und in ihren Wirkungen durchkalkulierte Aktion, die Zerstörungen auf der materiellen, vor allem aber auf der symbolischen Ebene bezweckte, zwar auf einem hochkomplexen Netzwerk des Terrors beruhte, jedoch einer binären Logik entsprang, welche die Twin Towers einer Weltmacht ausradierte. Die unmittelbare Antwort hierauf gehorcht, als Vergeltung konzipiert, einer nicht weniger binären Mechanik, deren Zerstörungskraft - erst einmal in Gang gesetzt - nur schwer zu stoppen sein wird. Eine wirkliche, Zukunft neu gestaltende Antwort werden wir erst dann gefunden haben, wenn sie auf dem beruht, was Alexander von Humboldt das »Weltbewußtsein« nannte, ein Begriff, der weit über die wichtige, aber auf den Bereich der Weltreligionen beschränkte Rede vom »Weltethos« hinausreicht.

Angesichts des binären Schemas eines »Kampfes der Kulturen«, der allseits so wirkungsvoll indoktriniert, illustriert und inszeniert werden kann, ist es nicht einfach, aber überlebenswichtig, eine relationale Logik des Weltbewußtseins zu entwickeln. Aus der Analyse der Humboldtschen Welt-Anschauung soll dieses Buch Elemente hierfür liefern: Denn Alexander von Humboldt hat wichtige Einsichten auf dem Weg zu einer Logik gewonnen, die andere Logiken und Denkmuster - auch solche binärer Natur - nicht ausschließt, sondern zu integrieren vermag. Der Verfasser des Kosmos entwickelte zukunftsweisende Möglichkeiten, unterschiedliche Gebiete und Ausdrucksformen des Wissens nicht zusammenzuschreiben, sondern zusammenzudenken. Sein Entwurf einer globalisierten Wissenschaft und mehr noch eines globalisierenden Denkens war eine Antwort auf jene zweite Phase beschleunigter Globalisierung, die in einem modernen Sinne den Begriff jenes Welthandels hervorbrachte, dessen Doppelsymbolik heute, in der vierten Globalisierungsphase, menschenverachtend zum Einsturz gebracht wurde.

Alexander von Humboldts unvollendet gebliebenes Projekt einer anderen Moderne ist ein wichtiger, von noch heute wirksamen Widersprüchen geprägter Schritt hin zu einem Denken jenseits jener Binarismen, die sich kaum zwölf Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer mit ungeheurer Sprengkraft »zurück«-gemeldet haben und das Denken wieder zu beherrschen (d.h. zu lähmen) drohen.

Gerade mit Blick auf die Akzeptanz (und nicht nur Toleranz) des Anderen sind die Humboldtsche Wissenschaft und das Humboldtsche Schreiben von unschätzbarem Wert für die Entwicklung transdisziplinärer Wissenschaftsformen, die natur-, kultur- und geisteswissenschaftliche Erkenntnisse miteinander verknüpfen. Zugleich dient eine kritische Auseinandersetzung mit der Humboldtian Science der dringend notwendigen Entfaltung transkultureller Denkmuster, die über interkulturelle Brückenschläge - so unverzichtbar diese auch sind - entscheidend hinausgehen. Mensch und Natur sind im Humboldtschen Weltbewußtsein stets aufeinander bezogen. Und es war die Natur, die dem Humboldtschen Denken eine wissenschaftlich zuvor für unmöglich erklärte Logik der Vernetzung buchstäblich vor Augen führte. Wer noch heute Alexander von Humboldt als den »Entdecker des Casiquiare« - jener natürlichen hydrographischen Verbindung zwischen den Stromsystemen von Orinoco und Amazonas - feiert, irrt zweifellos. Humboldt hat den Casiquiare nicht entdeckt, doch hat er ihn mehr als nur befahren oder erfahren: Er hat ihn als erster relational verstanden - und neuen Logiken den Weg bereitet.